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Die Phänomene Flucht und Migration sind aktueller und brisanter denn je – und doch bilden sie keineswegs bloß gegenwärtige Probleme und Besonderheiten der globalisierten Welt mit ihren ungerecht verteilten Ressourcen und Lebenschancen. Vielmehr gehört das Fliehen als eine der vielfältigen Formen des Migrierens seit jeher zu den zentralen Elementen der menschlichen Geschichte und dazugehörigen kulturellen Imaginarien, wie sie für Europa und die europäisch geprägte Welt bereits in den Fluchterzählungen des Alten und Neuen Testaments oder dem Gründungsmythos Roms greifbar werden. Das interdisziplinäre Seminar, das von romanistischer Seite von Frau PD Dr. Marita Liebermann (am Lehrstuhl für Romanistik I, derzeit Direktorin des Deutschen Studienzentrums Venedig) und von Seiten der Kunstgeschichte von Dr. Dominik Brabant (am Lehrstuhl für Kunstgeschichte) geleitet wird, will dieser mehr oder weniger ‚latenten‘ Allgegenwart der Flucht als historischer Wirklichkeit und als Motiv von Literatur und Kunst am Beispiel Venedigs nachspüren. Die Lagunenstadt wird dabei als ein Gebilde aus vielartigen Fluchtbewegungen perspektiviert, die viele verschiedene Bedeutungen des Wortes ‚Flucht‘ einbeziehen: Es soll nicht allein um Flucht im Sinne tatsächlicher Migration gehen, sondern auch um eine Öffnung auf literatur-, kunst- und kulturwissenschaftlich ausgeweitete Begriffsinhalte, um auf diesem Weg sowohl literarische und künstlerische Phänomene aus einem neuen Blickwinkel zu analysieren als auch die verschiedenen sozialen Bewertungen zu untersuchen, die sich mit den verschiedenen Fluchtformen verbinden. Wenn etwa ein übermüdeter Bürger aus seinem Alltag flieht, liegt dem ein anderes Narrativ zugrunde als der Flucht vor Verfolgung oder Hunger – und doch lassen sich hinsichtlich der Frage nach inter- und transkulturellen Dynamiken erstaunlich viele Berührungspunkte zwischen den zunächst so grundverschieden scheinenden Ausformungen des Phänomens erkennen. An ausgesuchten Beispielen von physisch-realen und mythisch-fiktiven sowie metaphorischen Formen der Flucht von Einzelnen oder von Kollektiven werden daher zentrale Momente der venezianischen Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, venezianische Kunst und an Venedig geknüpfte Vorstellungen untersucht, die ein Spektrum von den Ursprungsmythen bis zu den modernen und aktuellen Untergangstopoi umfassen. So erlangen die Studierenden einen Überblick über die Geschichte Venedigs, dessen Literatur und Kunst, und zugleich werden Ihnen Einblicke in disziplinübergreifende, kulturwissenschaftliche Arbeitsweisen ermöglicht. Das Spektrum der zu behandelnden Themen reicht mit Blick auf die Kunst von der Markuslegende in den mittelalterlichen Mosaiken in San Marco, in denen die Überführung der Markusreliquien aus Alexandria nach Venedig im Mittelpunkt stehen, über ihre Darstellung in den manieristischen Gemälden Jacopo Tintorettos bis hin zu venezianischen Darstellungen mit biblischen Fluchtmotiven (z.B. der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten). Es erstreckt sich aber auch bis in das 19. und frühe 20. Jahrhundert, in dem Venedig für Künstler wie Whistler oder Monet als prädestinierter Fluchtort aus einer zunehmend industrialisierten und urbanisierten Moderne galt. Schließlich soll mit Blick auf die letzte Kunstbiennale in Venedig, in der das Thema Flucht nachgerade omnipräsent war, untersucht werden, wie Gegenwartskünstler mit dieser Problemstellung im Spannungsfeld von künstlerischer Tradition, kuratorischen Interessen und Publikumserwartungen umgehen. Unter den literarischen Ausgestaltungen des Fluchtmotivs sollen Werke wie Casanovas Histore de ma vie bzw. die Histoire de ma fuite und die darin beschriebene, legendäre Flucht aus den sogenannten ‚Bleikammern‘, dem venezianischen Staatsgefängnis, ebenso analysiert werden wie Thomas Manns berühmte Novelle Tod in Venedig und deren Verfilmung durch Luchino Visconti. Gustav von Aschenbachs Reise nach Venedig, die im Mittelpunkt von Buch und Film steht, lässt sich als Fluchtbewegung weg von einer bürgerlichen Existenz und hinein in eine Konfrontation mit dem eigenen Begehren lesen, die wohl keineswegs zufällig in Venedig stattfindet, galt dieses doch spätestens seit dem 18. Jahrhundert und nicht nur zur Karnevalszeit als eine Art Heterotopie zum geregelten Alltagsleben auf dem Festland. Finden sich Elemente solchen ‚Otherings‘ auch in Hugo von Hofmannsthals Novelle Andreas, gibt Giorgio Manganelli in seinen Dialogen Interviste Impossibili dem hier mit angesprochenen psychologischen Moment eine neue Wendung, indem er den Casanova-Mythos umschreibt. In diesem Kontext gilt es nicht zuletzt, in den Blick zu nehmen, in welchem Verhältnis die bürgerliche Alltagsflucht und die Touristisierung Venedigs stehen, mit der wiederum die ebenfalls zu thematisierende gegenwärtige Flucht der Einwohner Venedigs aus der Stadt zusammenhängt. Wo möglich und sinnvoll wird immer wieder die aktuelle Debatte um die Migration und werden damit verbundene politisch-philosophische und theoretische Fragen einbezogen. Die Veranstaltung, die konzeptuell aus einem interdisziplinären Studienkurs hervorgegangen ist, der im September 2019 in Venedig am Deutschen Studienzentrum abgehalten worden war, findet als Blockseminar von 4.-7.7. in Eichstätt statt. Sie richtet sich sowohl an Studierende des BA und des MA Zu Beginn des Semesters wird ein verpflichtendes Vortreffen abgehalten, bei dem die vorbereitende Lektüre vorgestellt sowie Referate verteilt werden. Je nach Zusammensetzung der TeilnehmerInnen wird dann geklärt, welche Teile des Seminars eher einführenden Charakter haben und welche sich an fortgeschrittene Studierende richten. Es ist möglich, ECTS-Punkte im Rahmen verschiedener Module der Kunstgeschichte sowie der Romanistik zu erwerben.
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